mayday. weitergehen.

Druckversion

Wer am 2. Mai in Berlin eine der großen Tageszeitungen aufschlug, musste den Eindruck gewinnen, eine MaydayParade habe nicht stattgefunden. Vom myfest war die Rede und von der revolutionären 18 Uhr Demo. Und dass schließlich doch wieder Mülltonnen brannten. Wenn auch – oh, toll! – erneut weniger als im Vorjahr. Warum wir die Parade trotzdem als Erfolg betrachten, warum die Schwächen des Mayday gegenwärtig zugleich seine Stärken sind, und was es braucht, um den Mayday zu dem zu machen, was er sein könnte – auf diese Fragen wollen wir im Folgenden eingehen.

„Stars and Strikes!“ Am Auftaktort des Mayday, dem Boxhagener Platz im Stadtteil Friedrichshain, sammeln sich nach und nach einige tausend Menschen. Um kurz nach drei setzt sich der Zug mit sieben Wagen und sieben Mal Musik in Bewegung, zieht in gewagten Schlenkern durch Friedrichshain, passiert das MediaSpree-Gelände, das derzeit größte Labor neoliberaler Stadtumstrukturierung in Berlin, und wächst bis zur Oberbaumbrücke auf mehr als 7000 TeilnehmerInnen an.(1) Auf der letzten Zwischenkundgebung vor der Lidl-Filiale in der Wrangelstraße geht es noch einmal um die Arbeitsbedingungen beim Discounter (eine Betriebsrätin berichtet) und andere Übel des Kapitalismus; auf dem Weg zum Abschlussort zerstreut sich die Parade, und die Menge schwärmt aus in Kreuzberg – die meisten vermutlich zum Konzert von Banda Bassotti und Keny Arkana, das im Rahmen des myfests stattfindet und als Auftakt der 18 Uhr Demo am Kottbusser Tor fungiert. Frei nach dem Motto „The only good system is a soundsystem“, das auf einer der Mayday-Sprechblasen zu lesen stand. 

In den Stunden zuvor haben die TeilnehmerInnen die Parade zu einem besonderen Ereignis gemacht. Nach drei Jahren Mayday in Berlin ist der zentrale Anspruch der Parade teilweise Wirklichkeit geworden: Die TeilnehmerInnen haben ihre eigenen Themen auf die Parade getragen, sie haben den Mayday nicht nur konsumiert sondern aktiv mitgestaltet. IchStress, IchStreik, IchPause waren die Slogans, mit denen das Bündnis zur Parade aufrief. Sich austauschen über Wünsche und Forderungen in prekären Zeiten ein erklärtes Ziel. Das hat funktioniert. Auf den 300 leeren Sprechblasen, die bei der Auftaktkundgebung verteilt wurden, fanden sich Sprüche von „Nieder mit der Arbeit – Diplomarbeiten abschaffen!“ über „Ich brauch Urlaub“ bis „Prekarier aller Länder vereinigt euch – zum $tr€ik!“. Auch die Umfrage, die wir (FelS) auf der Parade gemacht haben, hat weitere Diskussion angeregt. Mehrere hundert Leute haben mit unseren InterviewerInnen über ihre Lebenssituation, Wünsche und Konflikte gesprochen. Auf der MaydayParade wird weiterhin getanzt, und nicht zu knapp. Darüber hinaus ist sie ein Ort der Auseinandersetzung geworden.

Auch einige mehr oder weniger organisierte Zusammenhänge haben begonnen, auf dem Mayday ihre Arbeitskonflikte zu thematisieren, auch ihre offenen Fragen damit: Ein dutzend Beschäftigte von Ambulante Dienste, dem größten Pflegedienstanbieter Berlins mit Wurzeln in der autonomen Bewegung, hat die Parade genutzt, um auf den aktuellen Kampf gegen Lohnsenkung und verschlechterte Arbeitsbedingungen bei AD aufmerksam zu machen. Der Arbeitskreis mit ohne Behinderung (ak mob) thematisierte die Konsequenzen der Leistungslogik auf das Leben behinderter Menschen und forderte Barrikaden statt Barrieren: Her mit dem schönen Lift! Es gab einen Block Berliner Kneipenkollektive, Angehörige der Wir bleiben alle-Kampagne Berliner Wohnprojekte waren vertreten, ebenso ihre Verbündeten im Kampf gegen Stadtumstrukturierung und Gentrifizierung von der Initiative Media Spree versenken, die schon in den Wochen zuvor gewaltig für ihr Anliegen getrommelt hatte. Und auf der Kundgebung vor dem Lidl forderte die ver.di-Verantwortliche für den Streik im Einzelhandel die TeilnehmerInnen der Parade auf, an Streiktagen Solidarität mit den VerkäuferInnen zu üben – und nicht in bestreikten Geschäften einzukaufen.
Für den Berliner 1. Mai ist all das ein inhaltlicher Quantensprung.

Uns zeigt es: Die MaydayParade ist mittlerweile zum Bezugspunkt für jene geworden, die sich am 1. Mai ernsthaft mit Konflikten in ihrer Arbeitssituation auseinandersetzen wollen. Dass diese Auseinandersetzung oft noch keine fertigen Forderungen zum Ergebnis hat, nehmen wir als Beleg dafür, dass die Suche nach Handlungsperspektiven noch am Anfang steht – abstrakte Parolen allein helfen da nicht weiter.

Dem Mayday wird manchmal vorgeworfen, er formuliere lediglich Individualperspektiven („IchStreik“, „IchStress“, IchPause“) gegen den kapitalistischen Alltag: Zement ins Klo für fünf Minuten Pause und Techno tanzen statt Revolution. Klar, auf dem Mayday hat sich kein kollektives revolutionäres Subjekt präsentiert, das in offensiven Aktionen die Gesellschaft aus den Angeln hebt. Daraus den Vorwurf zu stricken, dem Mayday fehle es an Inhalten, ist ungefähr so sinnvoll, wie einem Neugeborenen vorzuwerfen, dass es noch nicht sprechen kann.  Wer schon weiß, wie die freiberufliche Laptoparbeiterin gegen sich selbst oder ihren Auftraggeber streiken kann – und zwar jenseits von Krankheit, Kollaps oder Depression – ist herzlich eingeladen, dieses Wissen mit uns (und dem Rest der Welt) zu teilen. Wem darauf nur einfällt „Sie muss halt den Kapitalismus abschaffen“, der kann gerne weiter revolutionäre Traditionspflege betreiben.

Gegenwärtig ist der Blick auf die individuellen Lebenslagen, die real existierenden Probleme und Wünsche der Prekären die Voraussetzung dafür, kollektive Perspektiven zu finden und den Schritt aus der Vereinzelung, die mit prekärer Arbeit oft einhergeht, zu tun. In diesem Punkt unterscheidet sich der Mayday sowohl vom DGB-Umzug wie auch von der „revolutionären“ Demonstration um 18 Uhr: Wir verstehen unter Emanzipation nicht das Hinterherlatschen hinter möglichst verbalrevolutionären oder wahlweise auch verbalreformistischen Losungen, sondern gemeinsames Handeln in prekären Verhältnissen zu ermöglichen. Beim gegenwärtigen Stand der Klassenkämpfe – um mal eine klassische Formulierung zu bemühen – helfen erstmal Fragen weiter: Wie sieht Selbstorganisierung am Arbeitsplatz heute aus? Wie können die Beschäftigten – etwa bei der BVG, der Bahn oder im Einzelhandel – lernen, ihre Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen und neue Kampfformen jenseits des gewerkschaftlichen Protestrituals zu entwickeln? Wie und warum sollten Kundinnen sie unterstützen? Was sind die Forderungen von Praktikanten, denen die Hoffnung auf Übernahme und Kontakte meist wichtiger ist als gute Bezahlung? Und wo liegt die gemeinsame Perspektive der prekären Selbständigen, die vereinzelt von zu Hause arbeiten?

Allerdings ist auch Kritik am Mayday angesagt. Es stimmt, dass sich das beim Mayday formulierte „Wir“ der Prekären bisher eher auf junge Laptop-Arbeiterinnen als auf Supermarktkassierer bezieht. (Auch wenn unsere Befragung nach erster flüchtiger Sichtung der Ergebnisse darauf hindeutet, dass das Spektrum doch vielfältiger ist als erwartet.) Das ist nicht nur schlecht, denn es bedeutet, dass junge prekäre Freiberufler ihre eigenen Lebensverhältnisse endlich auch als Gegenstand politischer Auseinandersetzung begreifen, anstatt immer nur darauf zu warten, dass „die Ausgebeuteten“ endlich anfangen zu kämpfen. Die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Lagern der Prekären kann aber am 1. Mai lediglich sichtbar gemacht werden und nur für einen kurzen Moment auf der symbolischen Ebene entstehen. Eine Verbindung  der unterschiedlichen prekären Lager im Sinne einer solidarischen Praxis entsteht in den Auseinandersetzungen, an denen wir uns in den restlichen Tagen des Jahres beteiligen.

Dafür gab es im vergangenen Jahr einige Ansätze: diverse Veranstaltungen des MaydayBündnisses, Protestaktionen gegen die Stadtumstrukturierung in Friedrichshain und an der Spree, die Aktivitäten im Rahmen der Mir reicht’s... nicht!-Kampagne auf der Berlinale, der Austausch mit den warnstreikenden Beschäftigten bei CinemaxX sowie jüngst die Unterstützung der protestierenden BesucherbetreuerInnen im Berliner Technikmuseum. Hieraus sind Verbindungen mit anderen Aktiven entstanden, die hoffentlich in weitere Aktivitäten münden. Die MaydayParade ist dazu gut, die unterschiedlichen Kämpfe in einen Zusammenhang zu stellen.

Doch auch die Form der Parade bedarf der Weiterentwicklung. So wie sie ist, ist sie zu brav. In familienfreundlichen Tanz-Umzügen kann sich das Vorhaben, neue politische Ausdrucksformen zu finden, nicht erschöpfen.  Auch am 1. Mai müssen kollektive Aktionen möglich werden – ohne dass der offene Charakter der Veranstaltung dabei über Bord geht.

Wenn wir also vom Erfolg des Mayday sprechen, dann meinen wir damit die beschriebenen Tendenzen, die sich auf der Parade gezeigt haben. Um diese weiter zu entwickeln, bedarf es vor allem dreierlei:

1. Die TeilnehmerInnen beginnen, ihre Lebenslagen öffentlich zu thematisieren, als Prekäre an der Parade teilzunehmen. Der Wunsch, dem alltäglichen Stress etwas entgegen zu setzen, ist weit verbreitet. Für uns heißt das: Wir müssen Gelegenheiten schaffen, in den Austausch über Wünsche und Möglichkeiten für Widerstand in prekären Verhältnissen zu treten. Eine erste solche Gelegenheit wird es am 24. Mai geben, beim Workshop des Mayday-Bündnisses zum Streiken in prekären Zeiten; eine zweite im Juni, wenn wir die Ergebnisse der Umfrage auf der Parade zur öffentlichen Diskussion stellen.

2. Auch organisierte Akteure (linke Gewerkschafterinnen, stadtteilbezogener Initiativen etc.) beginnen, den Mayday als Forum für ihr Anliegen zu nutzen. Diese Kooperationen müssen wir ausbauen, indem wir nach Möglichkeiten suchen, uns gegenseitig zu unterstützen.  Konkret könnte das im Berliner Einzelhandelsstreik geschehen, der trotz einiger offensiver Aktionen der Beschäftigten von der Öffentlichkeit und der linken Szene weitgehend unbeachtet vor sich hindümpelt. Oder bei der anstehenden Auseinandersetzung bei Ambulante Dienste, wo sich die Interessen der Beschäftigten mit denen der nebenjobbenden Studierenden mit denen selbstbewusster Hilfenehmerinnen überschneiden. Egal in welchem Fall stellt sich dabei die Frage: Was haben diese Kämpfe eigentlich mit uns zu tun?

3. Um dem Wunsch nach Handlungsfähigkeit zu entsprechen und die Vereinzelung der Prekären zu überwinden, müssen wir aber auch die Form der Parade überdenken. Wenn wir uns die ach schon so fernen G8-Proteste wieder ins Gedächtnis rufen, dann bleibt aus den Blockaden vor allem eine Erfahrung: Mit guter Vorbereitung ist es möglich, große Aktionen zivilen Ungehorsams mit massenhafter Beteiligung zu organisieren und durchzuführen. Können wir diese Erfahrung für die Parade nutzen? Wenn wir wollen, dass die TeilnehmerInnen sich auch auf der Parade als handelnde Subjekten erleben, dann müssen wir die Diskussion darüber führen, ob ein Experiment möglich ist: eine große Aktion zivilen Ungehorsams am 1. Mai zu organisieren, sei es einer Blockade oder einer Besetzung oder einer anderen Aneignung von Raum und Zeit, die möglichst vielen Menschen die aktive Beteiligung ermöglicht. Eine solche Aktion wäre jedenfalls ein stärkerer inhaltlicher Ausdruck als die überbordende Redebeitrag-Beschallung der vergangenen Paraden. Ein stärkerer übrigens auch, als den Straßenkämpfen der Vergangenheit hinterherzuweinen oder sie in sinnentleerter Form immer wieder zu beschwören.

Wir hoffen, dass der Mayday weiter kritisiert wird. Doch wenn er sich verändern soll, dann sollten zumindest diejenigen, die an einer Weiterentwicklung der Kämpfe gegen prekäre Verhältnisse interessiert sind und die auch einen politischen und offensiven 1. Mai wollen, sich in den Mayday-Prozess einbringen. Die diesjährige Parade war ein ermutigender Hinweis darauf, was in Zukunft möglich sein kann. Wie drückte es noch gleich einer unserer Gesprächspartner auf der Berlinale aus: „Ich mach lieber ein geiles Ding, anstatt mich über die Umstände aufzuregen.“ Alles klar? Rumnörgeln war gestern – mitmachen ist heute. Mayday 2.0 ist morgen.

FelS, Mai 2008


Anmerkung:
1) Apropos –Innen: Mal schreiben wir von Teilnehmern, mal von Teilnehmerinnen, mal von TeilnehmerInnen. Bei uns gilt der alte Grundsatz: Gemeint sind wir alle!

Eine gekürzte Fassung dieses Textes ist nachzulesen in: ak – analyse & kritik Nr. 528, der am 23. Mai erscheint.