Das Ende der Bescheidenheit

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Der Krach schwillt an...

Nach dem Motto „besser spät als nie“ verstärkt sich seit einigen Wochen der Protest gegen die Einführung der sogenannten Hartz-Gesetze. Erst jetzt, kurz vor der tatsächlichen Umsetzung der Gesetze zum 1.1.2005, realisieren viele Menschen ihre eigene materielle Betroffenheit. Zehntausende im Osten und einige Tausend im Westen tragen ihren Unmut auf die Straße. Die Angst und Unsicherheit vor sozialem Abstieg und Armut reicht mittlerweile bis weit in die Mittelklassen hinein. Auch wenn sich dieser Protest in oft sehr diffuser (z.T. reaktionärer) Weise artikuliert und sich bisher fast ausschließlich gegen die Einführung von Hartz IV wendet, birgt er eine Menge Potenzial. Kollektiv formulierter Protest – hier erst einmal Demonstrationen – bedeuten tendenziell einen Bruch mit der linkspopulistischen Rhetorik und dem Ohnmachtsdenken des „kleinen Mannes“ („Die da oben machen ja eh was sie wollen“). Erst durch öffentlichen Protest können Ansprüche formuliert und Handlungsoptionen eröffnet werden. Der Zündfunke dafür, dass sich Ärger, Frust und Wut über immer mieser werdende Lebensbedingungen nicht allein ins Privatleben der einzelnen Individuen abdrängen lassen, ist vielleicht schon übergesprungen.

Trotzdem stehen der Protest und unsere Verankerung hierin erst am Anfang. Auch wenn sich Ansätze zu einer sozialen Bewegung ausmachen lassen, sind deren Inhalte eben nicht automatisch auch links. Für radikale Linke sollte das weder Anlass zu defätistischer Abgrenzung noch zu vorbehaltlosem Optimismus sein. Die neoliberale Hegemonie ist noch lange nicht gebrochen, auch wenn die tiefsitzende Krise der politischen Repräsentation momentan einen neuen Ausdruck erfährt (v.a. in Form der „Wahlalternative“ und den „Montagsdemonstrationen“).

Hegemoniepolitik: Mittendrin statt nur dabei

Zur Zeit werden in erster Linie Abwehrkämpfe geführt, denn für eine gestalterische Politik fehlen nach über zwei Jahrzehnten neoliberalem Rollback die Mittel. Auch wenn diese Abwehrkämpfe zuweilen rückwärtsgewandt sind, weil sie für immer untergegangene fordistische Konzepte aufrufen, wäre es arrogant und falsch, sie zu diffamieren. Letztendlich sind sie dringend nötig und müssen als Kampffelder gesellschaftlicher Kräfte begriffen werden(1). Um in den bestehenden und zu erwartenden Auseinandersetzungen und Kämpfen auch mit offensiven, antikapitalistischen Inhalten und Aktionen präsent zu sein und wahrgenommen zu werden, haben wir uns zu einem linksradikalen Bündnis zusammengeschlossen. Wir wollen radikaler sein als andere Teile des Protestspektrums, aber nicht gegen diese arbeiten, sondern mit ihnen zusammen.

Sozialabbau oder Klassenkampf von oben?

Es reicht nicht aus, den Abbau des Sozialstaats, Privatisierung sowie Streichungen im Sozial- und Gesundheitswesen zu kritisieren, ohne die Zusammenhänge zwischen den Veränderungen in der Produktionsweise, den Staatspolitiken und der ideologischen Durchsetzung eines neuen Menschentyps herauszustellen. Die aktuelle Entwicklung zeichnet sich durch einen massiv geführten „Klassenkampf von oben“ aus, der darauf abzielt, den Durchschnittspreis der Ware Arbeitskraft zu drücken und die Arbeitskraft stärker zu disziplinieren. Das betrifft einerseits die einfache Ebene der Entlohnung. Darüber hinaus ist der Kampf um Lohn aber immer auch einer, der sich um Zumutbarkeiten und Lebensstandards (z.B. bei Arbeitsbedingungen, Kündigungsschutz, Gesundheitsversorgung, Bildung, Rente etc.) dreht. Die Folge dieses Klassenkampfs ist eine weitgehende Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse großer Teile der Bevölkerung. Prekarisierung ist also keine Entwicklung die sich nur „an den Rändern“ der Gesellschaft abspielt(2), von hieraus wird die Umstrukturierung der gesamten Arbeitswelt in Angriff genommen. Auch im „Kernbereich“ der Beschäftigung sollen Unsicherheit, Bereitschaft zu Lohnverzicht und verstärkter Arbeitsbelastung hergestellt werden. Einstmals erkämpfte und gesellschaftlich anerkannte Standards und Rechte werden „enteignet“.

Dieser Klassenkampf wird auch ideologisch geführt. Z.B. wenn Peter Hartz verkündet, dass es Mitbestimmung in den Betrieben nicht mehr bedarf, weil nun jeder selbst bestimmt. Es „ist der ganze Mensch gefragt, mit seinen individuellen Möglichkeiten, seiner Offenheit, seinem Talent und seiner Leidenschaft, zu lernen, zu entdecken, etwas zu entwickeln und weiterzugeben“ (Hartz 2001: Job-Revolution, 16). Seit der Aufkündigung des „fordistischen Klassenkompromisses“ vor über zwanzig Jahren arbeiten Staat und Unternehmen sehr erfolgreich zusammen, um die Interessen der Lohnabhängigen, der Arbeitslosen und der SozialhilfeempfängerInnen gegeneinander auszuspielen und zu spalten. Der Einzelne ist nun nicht mehr nur der Inhaber seiner Arbeitskraft, sondern er ist auch für ihre Beschäftigungsfähigkeit selbst verantwortlich („Arbeitskraftunternehmer“). Dem entsprechend ist auch die Arbeitslosigkeit als individueller Misserfolg zu werten, womit die Zumutbarkeit eines jeden Dreckjobs legitimiert wird. Der Schaffung eines neuen Menschenbildes steht der Diskurs über die nationale Gemeinschaft gegenüber. So wird an die Verantwortung für die Nation appelliert, um Deutschland „nach vorne zu bringen“. Und gleichzeitig soll in dieser konstruierten Gemeinschaft auch die Sicherheit geboten werden, auf der Seite der Gewinner zu stehen, solange die Unternehmen sich noch als „gute Patrioten“ für den Standort Deutschland einsetzen. Besonders in diesem Zusammenhang ist die neuaufgelegte Parole „Wir sind das Volk“ der DDR-Opposition von 1989 problematisch: Die Konstruktion vom Volk ist immer eine Ein- und Ausschlussgemeinschaft, was allzu oft auch eine rassistische Komponente in der Vorstellung davon bedeutet, wem Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum zukommen soll und wem nicht.

Perspektiven und Utopie

All diese Prozesse sind keine Zu- oder Unfälle. Sie sind gewollt und werden von konkreten politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen vorangetrieben. Der Umfang der Angriffe von Staat und Kapital auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse ist enorm und bedarf u.E. radikaler Antworten und Alternativen. Appelle an den Staat oder die Verantwortung und Moral der Unternehmen nützen wenig, denn die Gegenseite weiß um ihre Interessen und ist deutlich besser organisiert als wir.

Anstatt in Abwehrkämpfen zu verharren, die Behebung des ein oder anderen Missstandes zu fordern und auf die allzu oft proklamierte Aufopferungs- und Leistungsideologie hereinzufallen, geht es uns um das „Ende der Bescheidenheit“, das Ende der Unterwerfung menschlicher Lebens- und Genussmöglichkeiten unter die Anforderungen der Kapitalverwertung.

Grundsätzlich ist es daher nicht der Ruf nach mehr Arbeitsplätzen, dem wir uns anschließen, sondern der Kampf um andere Formen der Vergesellschaftung jenseits von Lohnarbeit und Kapitalismus. In diesem Zusammenhang verstehen wir uns als antikapitalistisches Aktionsbündnis, in dem verschiedene politische Ansätze zusammen arbeiten und diskutieren können. Die Diskussionen und Aktionen zur gesellschaftlichen Aneignung sehen wir als eine Möglichkeit, mit einer offensiven Strategie die Proteste voranzutreiben und den Protestrahmen zu erweitern.

 

Fußnoten:

(1) Kritik an diesen Konzepten ist aber trotzdem angebracht: Das Leitbild im „Modell Deutschland“, dem fordistischen Sozialstaat der 50er, 60er und 70er Jahre war die „aktive Lohnarbeiterfigur“, auf der schon damals die Sozial(versicherungs-)systeme aufgebaut waren. Lebensentwürfe die jenseits der Normalarbeitsbiographie und heterosexuellen Familienvorstellungen lagen wurden strukturell genauso benachteiligt wie Frauen in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Der repressive, disziplinierende, diskriminierende und selektierende Charakter fällt oft genauso unter den Tisch wie die – für das Modell notwendige – imperialistische Hegemonie auf dem Weltmarkt und die immense Naturzerstörung.

(2) Auch wenn die sich vor allem MigrantInnen in einer besonders „prekären“ – und damit gut ausbeutbaren – Situation befinden: Zum größten Teil illegalisiert und ohne Arbeitserlaubnis bleibt oft nur die Möglichkeit von „Schwarzarbeit“. In dieser marginalisierten und rechtlosen Position ist oft schon das einfordern des Lohns ein unlösbares Problem.